Lettland – im Land der Spekulanten

Das Baltikum vom Boom in die Pleite – Die Rentner betteln wieder

Lettland hat hoch gepokert und ist tief gefallen. Das Land steht, wie das Baltikum insgesamt, kurz vor der Pleite. Reichlich unvorbereitet haben die Menschen den Boom genossen. Jetzt kommt der Kater. Stark gekürzte Durchschnittsrenten treiben die Ruheständler zum Betteln auf die Märkte. Die Verluste der Spekulanten werden sozialisiert. Junge Fachkräfte zieht es ins Ausland. So haben sich die Menschen den Kapitalismus nicht vorgestellt.

Dass der Imperialismus hart zuschlägt, hätten sie wissen müssen, wenn sie dem Staatsunterricht der UdSSR nur ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Stattdessen klemmten sie gelangweilt zwischen den Schulbänken, schrieben kleine Zettel mit Liebesbekundungen an ihre Mitschüler, verabredeten sich für den Nachmittag oder träumten einfach mit offenen Augen vor sich hin. Geschickte Schüler bereicherten ihre Lehrbücher mit eigenen Zeichnungen, die Ungeschickten vervollständigten die vorhandenen Porträts mit Bärten und Brillen. Nur manchmal, wenn eine Klassenarbeit drohte, brachen alle in Stress aus, lernten die Zitate von Lenin und Stalin auswendig. »Die ›Fünf‹ war leicht zu erreichen«, erzählt Ekaterina, die flotte Fünfzigerin aus Riga. »Mit meinem fotografischen Gedächtnis speicherte ich die Buchseiten kurzzeitig ab.«

Doch es gab auch ein paar, gleichmäßig verteilt in jeder Klasse, ein bis zwei Schüler, welche überzeugt waren von diesem System und dennoch alles hinterfragten. »Die kassierten dann die ›Einsen‹«, die schlechteste Note im sowjetischen Schulsystem. Ekaterina lacht. Hinterfragen sollte man nicht, denn das imperialistische System galt in der UdSSR als überwunden. Die Grundsätze waren Fakt. Da benötigte man keinen Leitfaden, wie verhalte ich mich richtig im Kapitalismus. Die Menschen haben es weit gebracht.

Die Reize der großen Freiheit

Nach der Schule arbeitete Ekaterina in einem Rigaer Restaurant. Studieren mochte sie nicht. Sie wollte Geld verdienen. »Das konnte ich nur, wenn ich der Arbeiterschaft zugehörig war«, sagt sie. Denn als studierter Mensch gehörte man der Intelligenzija an. »Schichtzulagen oder Trinkgelder waren tabu«, fährt sie fort. »Und das Grundgehalt, na ja, auch nicht so üppig.« Später relativiert sie diese Aussage noch etwas, »aber leben konnte man davon trotzdem gut, nur Luxus war eben nicht drin, kein Auto und nur ein schäbiger Schwarz-Weiß-Fernseher …«

1989 war es soweit, da übermannte die Staaten des Baltikums die große Freiheit und auf einmal konnten sich die Menschen alles kaufen. Und sie langten zu, das Gen Das-Muss-Ich-Haben wurde durch allerlei Reize durch die Medien gefördert. Dafür hatten sie sich losgesagt von der Gemeinschaft unabhängiger Sowjetrepubliken, kurz GUS. Nichts wollten sie mehr mit den Russen und dessen Gemeinschaft zu tun haben. Ihre Zukunft sahen sie allein in drei unabhängigen souveränen Staaten: Estland, Litauen und eben Lettland. Und diese orientierten sich ganz westeuropäisch.

Die ersten Jahre waren schwer. »Wir hatten ganz schön zu kämpfen«, sagt Ekaterina. »Von jetzt auf gleich konnten wir den Lebensstandard Westeuropas nicht erreichen. Dazu kam noch die massive Entwertung des Lats Ende der 90er-Jahre.« Die Hoffnung blieb und die Rettung ließ nicht lange auf sich warten. Die Schweden interessierten sich für die Staaten des Baltikums. Der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EU) folgte 2004. Überstürzt hatte man sich wieder gebunden. Sah man doch das Lebensniveau Westeuropas als Ideal an. Das Interesse der Schweden galt als Zeichen. »Alles musste plötzlich so schnell gehen«, meint Ekaterina. »Doch richtig informiert wurden wir nicht. Vor- und Nachteile wurden nicht abgewogen. Das Fernsehen zeigte uns nur die Bilder von zufriedenen und glücklichen Menschen. Die Hoffnung war groß, allen werde es besser gehen.« Um die Konjunktur weiter anzuheizen, wurden Kredite von Banken des Baltikums ohne einen Euro Eigenkapitalbeteiligung vergeben. Das Recht, dem Bürger Kredite zu verwehren, hatte nur ein Staat, wie sie ihn einst erlebt hatten, so die vorherrschende Meinung.

Schweden als Spender und Kleinkredite per SMS

Und die schwedischen Banken pumpten zusätzlich jeweils nahezu 40 Milliarden Euro in die drei Ostseestaaten. Das zeigte sich besonders in Riga. Villen und Neuwagen vermehrten sich wie Unkraut. Der Geldsegen brach nicht ab, zumal die Schweden die ehemaligen Sowjetrepubliken an der Ostseeküste besonders Lettlands sofort als heimischen Markt betrachteten. Es wurde in Technologien und Ausbildung der Leute investiert. »Den Aufschwung konnten wir nun auch äußerlich sehen und zeigen«, meint Ekaterina. »Da braucht man nur durch die herrlichen Straßen Rigas mit ihren hübschen Jugendstilhäusern zu spazieren.« Der Reichtum kam an bei den Menschen. »Wir hatten es geschafft«, seufzt sie. »Den Politikern haben wir vertraut.« Die Welt lag den Einwohnern zu Füßen.

Auch Ekaterina nahm die neuen Herausforderungen an. Sie kündigte bei ihrem Arbeitgeber im Restaurant und nahm einen Job bei einem der aufstrebenden Callcenter Rigas, unter schwedischer Schirmherrschaft an. Das war 2005. »Das Gehalt sprach für sich«, meint sie: »750 Euro im Monat. So viel hatte ich noch nie verdient.« Doch die Gehälter stagnierten nicht, sie stiegen weiter. Zeitweise hatte ihre Firma sogar Probleme, neue Arbeitskräfte zu finden, gibt sie zu verstehen. Sie waren, bedingt durch die geringe Arbeitslosigkeit in den Jahren 2005 und 2006, zu teuer geworden. Endlich wurde der Nachholbedarf der Konsumenten gestillt. Die Menschen wurden risikofreudiger, aber auch leichtsinniger. Zum ersten Mal durften sie günstige Kredite aufnehmen. Kleinkredite bis zu 2000 Euro konnten sogar per SMS abgerufen werden. Häuser wurden gekauft oder gebaut und Luxusgüter angeschafft. Viele Letten verschuldeten sich bis über beide Ohren. »Ich habe auch einen«, gesteht Ekaterina. Sie kaufte sich ein kleines Haus in einem der zahlreichen Vororte Rigas. Die Rückzahlung gestaltet sich moderat. Schnell konnte sie den Kredit reduzieren. »Sogar für die Zukunft konnte ich etwas zurücklegen.«

Lösung der Finanzkrise mit dem Plan in der Schublade

Plötzlich platzte die Blase. Im Januar dieses Jahres stürmten Tausende Menschen das Rigaer Parlament. Sie machten ihrer Wut auf dessen Sparkurs Luft.

»Dabei war ich nicht«, sagt Ekaterina. »Ich finde aber gut, dass diese Ignoranz und Arroganz bestraft wird.« Die Regierung um Ivars Godmanis dankte ab. Denn noch immer war der kleine EU-Staat auf ausländische Hilfe angewiesen.

Ein viertel Jahr später verweigerte gar der Internationale Währungsfonds (IWF) die notwendige Kredithilfe, mit der läppischen Begründung, die Sparquote im Staatshaushalt Lettlands sei zu gering. Und tatsächlich, sollten noch zwei weitere Zahlungen des IWF ausbleiben, wäre Lettland pleite. Dies ist ein Grund, doch die Ursachen liegen anders.

Eurasisches Magazin - August 2009
Eurasisches Magazin – August 2009

Die Boomzeit des Baltikums war eigentlich schon mit Beginn der globalen Finanzkrise vorbei. Jeder dritte Immobilienkäufer konnte bereits 2007 seine Kredite nicht mehr zurückzahlen. Im Mai 2008 lag die Inflationsrate Lettlands mit 17,9 Prozent auf Rekordniveau. Gleichzeitig sank das Bruttoinlandsprodukt vom Mai 2007 mit 7,8 Prozent auf 3,3 Prozent im Mai 2008 bis derzeitig auf 0,2 Prozent. Dies hatte die damalige liberalkonservative Regierung Lettlands zwar erkannt und sogar einen Plan zur Bekämpfung der Inflation ausgearbeitet. Nur dieser wanderte ohne weitere Beachtung in der Schublade. Der überbewertete Lat wurde zum Problem. Er nutzte den Importeuren und benachteiligte aber immer mehr einheimische Firmen. Eine Entwertung kam nicht infrage, hielten Lettlands Finanzexperten dagegen, sie würde die Auslandsschulden des Landes massiv vergrößern. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten, die Preise für einheimische Produkte schnellten in die Höhe. »Wir können uns kaum noch Obst, Gemüse und Milch aus der Heimat leisten«, bestätigt Ekaterina. »Hart trifft es da die Städter, sie haben oft keinen Garten mehr. Bei ihnen heißt es dann einfach, weniger Essen. Das schlägt auf das Gemüt.« Um diese Preissteigerungen auszubremsen, senkte die Regierung die Unternehmensabgabe für Krankheitskosten der Beschäftigten. Zusätzlich räumte sie Investoren, kleineren und mittleren Unternehmen Steuerentlastungen und staatliche Kredite ein. Anders als in Deutschland, wo es einen gut entwickelten Mittelstand gibt, welcher, bedingt durch die private Haftung der Unternehmer, sich etwas für schlechte Zeiten zurückgelegt hat, ist der Mittelstand des Baltikums vollkommen unterentwickelt. »Viele Kleinproduzenten geben auf«, sagt Ekaterina. »Die Landwirte werden zu großen Selbstversorgern, wie bei uns in der Gegend. Fast alle sind pleite.« Die Arbeitslosenquote stieg von vormals 7,4 Prozent (2008) auf beinah 25 Prozent (2009) an. Und schon werden Stimmen nach einer Verstaatlichung von Firmen laut. Ein Tabuthema seit dem Austritt aus der GUS.

Die Solidarität der EU

Das Ergebnis des EU-Beitritts und einem sorglosen Umgang mit Geld erleben wir heute. Ein Staat steht vor dem finanziellen Ruin. Einem Staat, dem die Fachkräfte davongelaufen sind und noch Abhandenkommen. »Für wen habe ich das Haus gekauft«, fragt sich Ekaterina. »Für meine Kinder, doch die zieht es fort, hin zu den lukrativen Arbeitsangeboten nach Großbritannien, Deutschland und Schweden.« Ihr Sohn ist schon ausgewandert. Er fand einen Job als Bauingenieur in Schweden. Und ihre Tochter, sie hat gerade ihren Job verloren. »Vielleicht geht sie auch. Wer weiß das schon.«

Die Zeichen stehen gut. Die Wirtschaft Lettlands steht vor dem finanziellen Kollaps. Und es wird alles unternommen, um die Zukunft der Kinder zu ruinieren. Gerade hat die frisch gewählte Mitte-Rechts-Regierung um Valdis Dombrovski ein Gesetz verabschiedet, um zu verhindern, dass das Haushaltsdefizit auf mehr als 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigt. Das bedeutet, es wird gespart, was aus den Bürgern herauszuholen ist. Die Gehälter im öffentlichen Dienst sinken um 55 Prozent, d. h. ein Lehrer der Oberstufe bekommt jetzt nicht mehr 600 Euro, sondern knapp 300 Euro im Monat. Ebenso wird die Durchschnittsrente von 120 Euro auf 80 Euro herabgestuft. Zusätzlich reduziert sich der staatlich festgelegte Mindestlohn um 200 Euro, das Elterngeld wurde halbiert und die Kinderhilfe gestrichen. Und nicht zuletzt, nachdem man bereits an Ausbildung, Krankenversorgung und Kinderbetreuung massiv spart, bettelte der staatliche Rundfunk seine Zuhörer um Spenden an. Den Segen dazu bekommt die Regierung von der EU. So fordern die EU-Kommission und der IWF, den Haushalt bis zur kleinsten Gemeinde hinab, zu sanieren. Passiert dies nicht, so gibt es kein Geld. Lösungen werden keine geliefert. Auch eine Art Kommunismus, wo das Vermögen einer Gesellschaft, die durch eine Regierung vertreten wird, die Verluste der gierigen Spekulanten zu bezahlen hat. Da zeigt sich die Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten.

Ekaterina hatte Glück: »In einem Monat bin ich schuldenfrei.« Doch wenn sie heute durch die Straßen geht, sieht sie sie wieder, die bettelnden Rentner auf den Märkten, in den Straßenunterführungen. Sie erkennt sie wieder, die Intelligenzija, welche sich mit Taxifahren einen Nebenerwerb sichert. Und sie bemerkt es, wenn sie zu den Behörden muss, wenn Bestechung zu schnelleren, vor allem positiven Ergebnissen führt. »Einen Kaffee und ein Stück Kuchen in einem der schicken Straßencafés, kann ich mir bei den Pariser Preisen schon lange nicht mehr leisten.« Lettland steht vor seiner größten Herausforderung seit 1991. Viele Menschen haben ihre Hoffnung noch nicht verloren. »Zur diesjährigen Europawahl war ich zum ersten Mal wählen«, gesteht Ekaterina.

Eurasisches Magazin 2009

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