Es ist nicht so einfach mit dem Kwas
„Kwasherstellung ist schwer“, meint Tatjana, „das Brot ist heute nicht
mehr so geeignet, voll gestopft mit Chemie. Es wird schimmelig, statt hart
zu werden.“ Täglich steht sie hier und verkauft ihren kühlen Trunk, der im
Sommer wesentlich leichter unter die Leute zu bringen ist als im Winter.
Was soll sie anderes tun, ohne Ausbildung, ohne Chance auf einen
Broterwerb, eine anständig bezahlte Arbeit.
Also arbeitet sie mit ihrer Mutter im Verkauf. Und gleichzeitig sind beide
auch noch Kwas- Hersteller. Nach zwölf Stunden am Wagen ist ihr Arbeitstag
noch nicht beendet. Auf ihrem Hof außerhalb der Trabantensiedlungen, die
sich weit ins Umland schieben, setzten sie die neuen Fässser für die
kommenden Wochen an.
Im Winter haben die Frauen mehr Freizeit. „Aber im Sommer müssen wir das
Geld für diese Zeit mit verdienen“, erklärt Tatjana „und die Winter sind
lang in Russland.“ Ihre Mutter arbeitet am Kwaswagen auf dem Krasnaja
Ploschad. Jeden Mittag kommt sie an den Wlassjaw Torturm und bringt der
Tochter etwas zu essen vorbei.
„In der Jugend waren die Zucker süßer und die Mädchen schöner“
„Ach, da bist du ja schon“, begrüßt Tatjana ihre Mutter, die unversehens
dazu gestoßen ist. Eine kleine Unterhaltung entspinnt sich. „Du flirtest
schon wieder“, gibt die Mutter zurück. Tatjana stammelt ein paar Worte der
Entschuldigung. „Na, lass mal”, bremst ihre Mutter und wendet sich mir mit
einem alten russischen Sprichwort zu: „In der Jugend waren die Zucker
süßer und die Mädchen schöner.“
„Möchten Sie etwas mitessen“, fragt mich Tatjana. Dankbar lehne ich ab.
Wenig haben diese Menschen, denke ich und trotzdem teilen sie. Ihnen ist
es sogar unangenehm, vor mir zu essen. „Ich nehme gern noch einen Becher
Kwas“, sage ich.
Vielen Menschen bereiten die marktwirtschaftlichen Gegebenheiten Probleme.
Und tatsächlich geht es vielen Russen heute schlechter als zu
Sowjetzeiten. Man kannte keine Arbeitslosigkeit. Der Lohn wurde pünktlich
gezahlt. Und das Urlaubsgeld reichte für eine dreiwöchige Reise ans
Schwarze Meer. Kurzum, das Geld genügte für das tägliche Leben. Dabei
kommt Tatjanas Mutter ins Schwärmen. „Du immer mit deiner Sowjetunion“,
unterbricht sie die Tochter. Und die Mutter kontert wie so oft: „Da war
eben vieles besser.“ Tatjana sieht das anders: „Wir leben heute. Mit
deiner Sowjetunion kann ich wenig anfangen.“ Und wieder hat die Mutter ein
Argument, warum es damals einfach besser war: „Ja, heute frisst die Miete
zwei Drittel der Monatseinnahmen.“
Tatjanas Mutter ging die Entwicklung in Russland zu rasant. Der sich
ausbreitende Kapitalismus verderbe die Jugend und lasse die Ansprüche
vieler Menschen hochschnellen. Allmählich sieht sie die russische Seele
dahinschwinden. Ganz Unrecht hat sie damit vermutlich nicht. „Die Jugend
denkt nur noch an Konsum“, erklärt sie sehr bestimmt. „Mutter, du hast
wohl die Inflation von 1998 vergessen“, fällt ihr Tatjana ins Wort:
„Gespart hast du. Und was hattest du davon? Nichts.“
Coca Cola wirft seine Schatten voraus
Seit geraumer Zeit haben die beiden neue Sorgen. Die russische Presse
bestätigte Gerüchte, der amerikanische Konzern Coca Cola wolle den
russischen Markt mittels eines neuen Kwasproduktes beglücken. Hierzu will
der Konzern in zwei russischen Fabriken, in Twer und Pensa, den beliebten
Trunk brauen lassen. Schließlich war Kwas in den vergangenen zwei Jahren
das Erfrischungsgetränk mit der steilsten Wachstumskurve. „Mit großen
Werbekampagnen wird Coca Cola den Markt neu beleben“, bekräftigt Tatjana:
„dies wird sicher auch unserem Geschäft gut tun.“
Die Mutter lächelt und fragt den Herrn, dem sie gerade einen Becher Kwas
abfüllt: „Was meinen Sie dazu?“ Die Antwort ist eindeutig: „Ich brauche
keinen amerikanischen Kwas.“ Tatjana wirft ein: „Die Leute werden sich
daran gewöhnen“. „Ja, das könnte sein, sie gewöhnen sich daran, wie der
Schluck aus den Flaschen im Supermarkt schmeckt“, sagt der Herr. „Und
irgendwann werden wir Russen nicht mehr wissen, wie richtiger Kwas
geschmeckt hat“, fügt die Mutter hinzu.
Da kommt Kolja von seinem Besorgungsgang zurück und meint zu mir:
„Was ist jetzt mit dem Igorlied und den Ikonen?“ „Hast du alles
bekommen?“, frage ich zurück. Er lacht: „Und du?“
„Da, 50 Rubel in Kwas
angelegt.“ – Solange es den echten noch gibt.
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